Estland ist das wirtschaftlich stärkste Land im Baltikum, treibt die digitale Transformation energisch voran und erzielt Spitzenleistungen in schulischen Vergleichstests. Bildungspraxis hat sich angesehen, ob auch die estnische Berufsausbildung ein Vorreiter ist. Von Roman Eisner
Ruhig und mit gekonntem Griff stellt die Kellnerin mit schwarzer Weste und Schürze die Nachspeise auf den dekorierten Tisch – Mousse au Chocolat, darauf zwei Himbeeren. Das kleine Restaurant liegt in Tartu, mit knapp 100 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Estlands. Das Besondere: Das Restaurant wird von Auszubildenden in Gastronomieberufen betrieben – von angehenden Kellnerinnen und Kellnern, Köchinnen und Köchen bis zu Restaurantmanager/-innen. Untergebracht ist es im Tartu Vocational College, kurz Voco. Es ist das größte Berufsbildungskolleg Estlands.
Raini Jõks leitet das Voco seit 2019. Stolz erzählt er, dass jährlich 3000 neue Azubis ihre Berufsausbildung am Voco beginnen. Sie können aus über 50 Berufen auswählen, spezialisiert ist das Berufsbildungskolleg vor allem auf Informationstechnologie, Handwerk, Kfz, Kosmetik, Handel, Gastronomie und Tourismus. Estland hat anders als Deutschland kein duales Ausbildungssystem. Die jungen Menschen hier absolvieren ihre Ausbildung an Berufsbildungszentren wie dem Voco. Mehrwöchige Praktikumsphasen in Betrieben und Unternehmen sind verpflichtend, die Ausbildungs- und Prü- fungshoheit liege aber bei den Berufsbildungskollegs, erklärt Schulleiter Jõks. Insgesamt gibt es 35 Berufsbildungszentren mit etwa 130 Ausbildungsberufen – in Deutschland sind es mehr als 300. Derzeit absolvieren in dem 1,3 Millionen Einwohner umfassenden Land rund 28 000 Jugendliche eine Ausbildung.
Ein Viertel der Jugendlichen wählt die Ausbildung
Das estnische Bildungssystem ist auf allen Bildungsstufen zentraler und einheitlicher organisiert als das deutsche, bietet aber auch Durchlässigkeit. Bis zur neunten Jahrgangsstufe lernen alle estnischen Kinder und Jugendlichen gemeinsam, es gibt anders als in Deutschland kein mehrgliedriges Schulsystem. Erst nach dem Abschluss der Sekundarstufe I trennen sich die Wege. Etwa 70 Prozent eines Jahrgangs entscheiden sich dann für ein Gymnasium, das ein Studium an einer Universität ermöglicht. Der Wettbewerb um einen Platz an den renommiertesten Schulen ist hart. Estland verzeichnet damit ähnlich wie Deutschland einen starken Hang zur Akademisierung, der der beruflichen Ausbildung schadet. Nur rund 25 Prozent eines estnischen Jahrgangs wählen aktuell eine Berufsausbildung, in Deutschland sind es rund 50 Prozent. Diese dauert zwischen zwei und drei Jahren, je nachdem ob die Azubis an den Berufsbildungskollegs noch ihre Hochschulreife erwerben wollen. Dann steht auch ihnen der Weg an die beruflichen Hochschulen und Universitäten offen.
Die estnischen Berufsbildungskollegs legen großen Wert darauf, die Ausbildung praktisch und handlungsorientiert zu gestalten, auch ausserhalb der Betriebspraktika. Das Voco in Tartu ist deshalb als offene Schule konzipiert. Die Azubis bieten ihre Produkte und Dienstleistungen allen Menschen an – und das zu einem günstigen Preis. Wer in Tartu sein Auto reparieren oder sich die Haare schneiden lassen will, kann das im Voco machen, in der schuleigenen Autowerkstatt und im dortigen Friseur- und Beautysalon. Das Berufsbildungskolleg hat auch eine eigene Metzgerei und Konditorei und eben das eigene Restaurant.
Da die Ausbildung in Estland vor allem in den Berufsbildungskollegs stattfindet, hängt die Anzahl der Ausbildungsplätze nicht wie in Deutschland davon ab, wie viele Plätze die Betriebe und Unternehmen anbieten. Die Zahl der Plätze richte sich nach den Bedarfen des Arbeitsmarktes und den Anforderungen der Wirtschaft – auch um die Kosten des Staates kontrollieren zu können, erklärt die Generalsekretärin im estnischen Ministerium für Bildung und Forschung Triin Laasi-Õige. „Nur so können wir die Erstausbildung auch weiterhin kostenfrei anbieten“, so Laasi-Õige.
Der Staat fragt die Wirtschaft nach Ausbildungsbedarfen
Um diese Bedarfe festzustellen, befragen die estnischen Behörden laufend die Betriebe und Unternehmen im Land und analysieren den Arbeitsmarkt – diese Zahlen fließen in das Prognoseprojekt Oska ein. Melden die Betriebe beispielsweise einen erhöhten Bedarf an Bäckerinnen und Bäckern, weist der Staat die Berufsbildungszentren an, im nächsten Jahr mehr Ausbildungsplätze dafür einzurichten. Raini Jõks, der Schulleiter des Voco, schafft dann die entsprechenden Strukturen an seiner Schule und sorgt für genug Ausbildungspersonal. Will ein Azubi eine Ausbildung absolvieren, bei der der Bedarf gedeckt ist, fallen Ausbildungsgebühren an.
Die aktuelle Oska-Prognose Estlands blickt bis in das Jahr 2031. Der Prognose zufolge werden die Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem in den Bereichen Information und Kommunikation, Finanzen und Versicherungen sowie Gesundheits- und Sozialwesen wachsen, Forstwirtschaft und Fischerei werden weiter schrumpfen. Die Zahlen von Oska sind online einsehbar und helfen damit auch den jungen Menschen, Entscheidungen zu ihrer Ausbildung und späteren Karriere zu treffen.
Das estnische Ausbildungssystem ist anders aufgebaut, steht aber vor ähnlichen Herausforderungen wie das deutsche. „Wir wollen unser Berufsbildungssystem wettbewerbsfä- higer und für die jungen Menschen attraktiver gestalten“, bekräftigt Triin Laasi-Õige. Das ambitionierte Ziel: Bis 2035 sollen sich die Einschreibungen an den Berufsbildungskollegs auf 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs erhö- hen. Reformen sollen das möglich machen. Die starren Ausbildungscurricula der einzelnen Berufe werden erweitert, modularisiert und flexibilisiert, um sich den sich ständig verändernden Bedürfnissen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes schneller und besser anpassen zu können. Die sogenannte NeetRate, der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die weder beschäftigt noch in Aus- oder Weiterbildung sind, liegt in Estland mit zehn Prozent im EU-Durchschnitt. Geht es nach der Bildungsgeneralsekretärin Laasi-Õige, sollen KI-gestützte, personalisierte Lernangebote dabei helfen, die jungen Menschen in ihrer Ausbildung individueller zu fördern und sie damit auch vom Ausbildungsabbruch abhalten. Damit die Gäste in Raini Jõks’ Restaurant am Tartu Vocational College nicht irgendwann vor leeren Tellern sitzen.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: BILDUNGSPRAXIS – didacta Magazin für berufliche Bildung, Ausgabe 2/2025, S. 28-30, www.bildungspraxis.de
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