Das aktuelle System der Finanzierung und Beschaffung von Lerninhalten ist auf Hardware – also auf Bücher – ausgerichtet. Echte Digitalisierung sieht anders aus. An Angeboten mangelt es nicht, weiß EdTech-Gründerin Anja Hagen. Man müsse an die Regularien ran, um Apps, Plattformen und Software für den Einsatz an die Schulen zu bringen, fordert das Vorstandsmitglied des Bündnises für Bildung.

Bei der Digitalisierung der Schulen rangiert Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. So oder so ähnlich lauten die Urteile, die in den letzten Wochen und Monaten von vielen Seiten über den Status Quo unseres Bildungssystems gefällt worden sind. Um wieder auf einen Champions League-Platz vorzurücken, wurden von Seiten des Bundes und der Länder insgesamt 6,5 Milliarden Euro für Ausstattung und technische Infrastruktur zur Verfügung gestellt.

Inzwischen haben fast alle Lehrkräfte in Deutschland ein Dienstgerät und in den allermeisten Schulen gibt es zumindest einen Klassensatz Tablets und ein paar Whiteboards. Aber – um in der Fußball-Metapher zu bleiben – was nützt ein grüner Rasen, Flutlicht und eine schicke Anzeigetafel, wenn nichts da ist, mit dem gespielt werden kann? Konkret: Um die Digitalisierung an den Schulen voranzutreiben, braucht es nicht nur Geräte, sondern auch digital bereitgestellte Bildungsinhalte, die das Lehren und Lernen fachlich und pädagogisch unterstützen. Gemeint sind Apps, Lernplattformen, E-Books, Webportale mit interaktiven, multimedialen, adaptiven Inhalten für Mathematik, Englisch, Sachkunde oder Physik.

Dass kaum digitale Bildungsinhalte an den Schulen verwendet werden, liegt nicht am mangelnden Angebot. Es gibt eine lebendige EdTech-Industrie in Deutschland, sodass inzwischen für jedes Fach, jede Schulform, jede Jahrgangsstufe und jede Lehr-Lern-Situation digitaler Content bereitsteht. Es liegt auch nicht an der mangelnden Nachfrage, das haben Umfragen unter Lehrkräften und Schüler:innen gezeigt. Dass in den Schulen so wenig mit digitalem Bildungscontent gearbeitet wird, liegt daran, dass die Strukturen und Prozesse für die Finanzierung, die Beschaffung und die Verteilung von Bildungsinhalten auf analoge Medien zugeschnitten sind und für digitalen Bildungscontent nicht funktionieren.

Warum die Finanzierung auf Bücher ausgerichtet ist

Beispiel Finanzierung: Die Lernmittelfreiheit, also das zur Verfügung stellen von Lernmedien durch die öffentliche Hand, steht zwar in vielen Landesverfassungen, ist aber de facto fast überall abgeschafft. Die Pro-Kopf-Budgets, die in einigen Bundesländern für die Anschaffung von Bildungsinhalten zur Verfügung stehen, sind so knapp bemessen, dass davon weder die notwendigen analogen, geschweige denn digitale Medien gekauft werden können.

Ein:e Schüler:in der 8. Klasse hat zum Beispiel Unterricht in acht bis zehn verschiedenen Fächern. Nehmen wir an, ein Bildungsinhalt würde zehn Euro pro Fach kosten, dann wären 80 bis 100 Euro pro Schüler:in pro Schuljahr erforderlich – die öffentliche Hand übernimmt aber durchschnittlich nur 50 Euro pro Jahr. Die Konsequenz ist, dass Bildungsinhalte vom Schulträger einmal gekauft und über mehrere Jahre ausgeliehen werden – ein Modell, das nur mit „Hardware“ in Form von gedruckten Büchern funktioniert und nicht mit Lizenzen für digitalen Bildungscontent. Wollen wir bei der Digitalisierung der Schulen weit vorne mitspielen, dann müssen wir die vorhandenen Budgets für digitalen Bildungscontent öffnen und aufstocken sowie zusätzliche Budgets für digitalen Bildungscontent schaffen.

Beschaffung muss neu gedacht werden

Aber Geld allein reicht nicht. Denn selbst wenn zusätzliches Budget wie im Rahmen der Corona-Soforthilfen in das System gepumpt wird, kommen die digitalen Bildungsinhalte trotzdem nicht bei den Schulen an, weil die Beschaffungswege derzeit unklar sind.

Der Einkauf von Bildungsinhalten ist in Deutschland Sache des Schulträgers, also der Schulverwaltungsämter in den Kommunen. Schulen treffen zwar die pädagogische Entscheidung für einen Bildungsinhalt, können diesen in der Regel aber nicht kaufen, weil sie keine juristische Person sind. Die Schulverwaltungsämter kennen sich gut mit der Ausschreibung von gedruckten Schulbüchern aus, und da es für ein Lehrwerk eines Verlags eh nur einen Anbieter gibt, erfolgt die Ausschreibung lediglich unter den Distributoren, sprich dem Buchhandel.

Bei digitalem Bildungscontent in Form von Apps oder Webportalen ist nicht geregelt, ob das Produkt als Lieferleistung, Software oder Dienstleistung einzukaufen ist. Es gibt keinen Buchhandel als „Zwischenhändler“, für die App XY kommt nur der Anbieter XY in Frage, was den ganzen Ausschreibungsprozess ad absurdum führt.

Dazu kommt, dass Ausschreibungen in der Regel auf den Einmal-Kauf von Leistungen für einen begrenzten Zeitraum ausgerichtet sind. Wie sollen über den gleichen Prozess jährlich erneuerbare Nutzungslizenzen von digitalem Bildungscontent ausgeschrieben werden? Die Antwort ist: gar nicht oder nur von sehr risikoaffinen Verwaltungsbeamten (Oxymoron beabsichtigt).

In der Konsequenz vermeiden es die Schulträger aktuell, digitalen Bildungscontent einzukaufen. Mit Blick auf den Champions-League-Platz in Sachen Digitalisierung bedeutet das: Die Prozesse für die Beschaffung von Bildungscontent müssen dringend vereinfacht werden. Schulträger brauchen Rechts- und Verfahrenssicherheit, sonst werden weiterhin nur gedruckte Schulbücher eingekauft.

Wo wollen wir wirklich hin?

Beide Vorschläge – Aufstockung der Lernmittel-Budgets der Länder, vereinfachte Prozesse beim Bildungsmedien-Einkauf durch den Schulträger – suchen nach Stellschrauben im System, um den Weg freizumachen für mehr digitale Bildungsinhalte in den Schulen. Um eine Mannschaft aus dem Mittelfeld zu holen, reicht es aber vielleicht nicht, die Dinge nur besser zu machen. Deutlich mehr Dynamik auf dem Platz bekommen wir, wenn wir die Entscheidungsfreiheit der Schulen für digitalen Bildungscontent stärken, ihnen das Budget und die Hoheit geben, den benötigten Bildungscontent selbst einzukaufen und sie durch Standards und Services bei der Auswahl zu unterstützen. Eine Schulleitung muss nicht Profi in Sachen DSGVO werden, hier können länderübergreifende Positivlisten von datenschutzkonformen und rechtssicherem digitalem Bildungscontent helfen. Begleitet von einem Self-Assessment der Anbieter, analog zum Beispiel der freiwilligen Selbstkontrolle der Multimedia-Anbieter.

Welchen Platz in der Champions League wir auch immer anpeilen: Weiter nur investive Mittel für die Geräteanschaffung und technische Infrastruktur in Schulen bereitzustellen, wird mehr Hardware in die Klassenzimmer bringen, aber den Unterricht nicht digital gestützter machen. Eine echte Bildung in der digitalen Welt erreichen wir nur, wenn wir die strukturellen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass fachliche und pädagogische digitale Lernmedien in den Schulen ankommen können.

Anja Hagen ist Gründerin und Geschäftsführerin eines EdTech-Unternehmens. Sie ist im erweiterten Vorstand des Bündnis für Bildung e.V. und 1. Vorsitzende des EdTech-Verbands e.V. in Deutschland. Das Bündnis für Bildung unterstützt als gemeinnütziger Verein den digitalen Wandel beim Lehren und Lernen. Unter seinem Dach versammeln sich Vertreter:innen der öffentlichen Hand, IT-Unternehmen, Verlage, Start-ups und Bildungsinstitute. Der Text basiert auf einem Positionspapier des Bündnisses für Bildung, das heute hier veröffentlicht wird.